Kennzahlen im Energievertrieb
In den Zeiten knapper werdender Margen, sofern diese überhaupt noch zu erzielen sind, versuchen viele Energieversorgungsunternehmen (EVU) über eine strengere Risikoklassifizierung die Spreu ihrer Kunden vom Weizen zu trennen. Ziel ist es hierbei, diejenigen Kunden zu identifizieren, die nur unter erheblichen Risiken oder gar realen monetären Aufwendungen beliefert werden können.
Ein Hauptaugenmerk liegt dabei
zumeist auf dem Ausgleichsenergierisiko. Das Unternehmen muss Energie, die der Kunde
abweichend von dessen beschaffte Mengen zu viel oder zu wenig verbraucht, zu
separaten Preisen an- oder verkaufen. Da diese Preise jedoch erst nach der
Belieferung bekannt werden und auf Basis der Gesamtabweichung innerhalb der
Regelzonen und Marktgebiete über die real entstandenen Kosten ermittelt werden,
ist dies eine massive Risikoposition, die im schlechtesten Fall nicht nur die
Marge dieses Kunden verzehrt. Sollten zukünftig die Ausgleichsenergiepreise
durch die steigenden Grenzkosten der fossilen Energieträger in die Höhe schnellen,
wird sich dieses Risiko noch deutlich stärker ausprägen. Entsprechend ist es zumeist
ein zentraler Prozess, dieses Risiko bestmöglich einzupreisen bzw. zu
minimieren.
Stefan Heimel
Während in den letzten Jahren das
Thema Prognose hierbei immer weiter in den Vordergrund gerückt ist, und viele
Unternehmen sich diesbezüglich mit entsprechenden Expertensystemen verstärkt
haben, sind einige Versorger bereits den nächsten logischen Schritt gegangen,
der in das folgende Theorem gefasst werden kann: Die beste Prognosesoftware nützt
nichts, wenn Datenqualität und Prozesse im Unternehmen nicht auf und für eine
hohe Prognosegüte ausgeprägt sind. Somit haben wir hier einen Dreiklang, der
durchaus als das „Drei Säulen“-Konzept auf dem Weg zur optimalen Prognose
gesehen werden kann.
Man muss sich jedoch von der Illusion verabschieden, dass alle Kunden theoretisch
gut prognostizierbar sind. Entsprechend kann das Theorem erweitert werden:
Die beste Prognosesoftware nützt nichts, wenn Datenqualität und Prozesse im
Unternehmen nicht auf und für eine hohe Prognosegüte ausgeprägt sind oder der
Kunde durch quasi stochastisches Verhalten schlicht nicht prognostizierbar ist.
Die drei Säulen bleiben durch diese
Erweiterung unberührt, erfordern aber implizit eine Analyse der potentiellen
Qualität des Kunden als einen separaten Prozessschritt. Dieser sollte im
Optimalfall schon vor dem Vertragsschluss durchgeführt werden, und Kennzahlen
zum Lastverhalten des Kunden ermitteln.
Ziel ist es, den Mitarbeitern konkrete und nachvollziehbare Handlungsanweisungen
zum Umgang mit dem Risiko zu geben. Dies kann von der Ausprägung kundenindividueller
Risikokomponenten im in angebotenen Preis und die Festlegung von notwendigen
Datenlieferungen des Kunden in den Vertragsdokumenten bis hin zur gänzlichen Vermeidung
des Risikos durch Nichtbelieferung erfolgen.
Die Hauptschwierigkeit dreht sich
jedoch um die Kernfrage: Welche Kennzahlen sind überhaupt als Risikoindikatoren
geeignet? Anders als in den Aktienmärkten, in denen viele Preisverläufe sehr
stark psychologischen Ursachen und kurzfristigen Abhängigkeiten folgen, ist der
Energieverbrauch oder die Energieerzeugung zumeist durch externe Faktoren wie
Wetterdaten bzw. Schichtpläne oder Auftragslage des Kunden geprägt. Harte,
unternehmensunspezifische Indikatoren zur Volatilität des Lastganges oder über die
Abhängigkeit von Betriebskalendern sollten mit weicheren, unternehmenseigenen
Faktoren wie der Harmonie zur Portfoliostruktur zu einem funktionierenden Kennzahlensystem
gekoppelt werden.
Realistisch kann ein solcher
Prozess jedoch nur umgesetzt werden, wenn die Akzeptanz eines solchen Konzeptes
im gesamten Unternehmen geschaffen wird. Gerade die Risikovermeidung durch
Nichtbelieferung kann bei Energievertrieben, die Mengengesteuert am Markt
agieren, massiv auf Widerstand stoßen. „Verständnis schafft Akzeptanz“ sollte
hier die Devise sein, da das ganze Konzept nur nachhaltig funktionieren kann,
wenn es von den Stellen getragen wird, an denen den Risiken optimal begegnet
werden kann. Auch muss die Ermittlung der Kennzahlen so automatisiert wie
möglich umgesetzt und in die bestehenden Prozesse integriert wird, so dass für
die Mitarbeiter möglichst wenig Mehraufwand entsteht.
Jedes Unternehmen sollte sich
hierzu explizit Gedanken machen, welche Indikatoren in welcher Ausprägung oder
Kombination zu welchen Reaktionen im Unternehmen und gegenüber dem Kunden führen
sollen. Frei nach dem Motto „Es gibt keine schlechten Kunden, nur welche, bei
denen das Geld nicht über die Energielieferung verdient wird“ sollte dieses Regelwerk
dann auch als Chance gesehen werden, den Kunden über das Kennzahlensystem so klassifizieren
zu können, dass ihm die bestmöglich passenden Dienstleistungen angeboten werden
können.
Geschäftsführer esterion GmbH